Der Europäische Gerichtshof hat in seiner viel beachteten Rechtsprechung zur Arbeitszeiterfassung vom 14. Mai 2019 (C-55/18 Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) ./. Deutsche Bank SAE) entschieden, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 31 Abs. 2 der Grundrechte Charta der Europäischen Union, sowie den Bestimmungen der Arbeitszeitrichtlinie verpflichtet sind, ein objektives, verlässliches und für den Arbeitnehmer zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung zu errichten.
Zwar sieht das Europarecht eine solche Verpflichtung nicht ausdrücklich vor, der Europäische Gerichtshof ist jedoch der Ansicht, dass der Zweck des Art. 31 Abs. 2 der GrCh (Arbeits- und Gesundheitsschutz) nur erreicht werden kann, wenn eine entsprechende Arbeitszeiterfassung erfolgt.
Eine gesetzliche Regelung, die sich wie im deutschen Recht darauf beschränkt, die über die wöchentliche Höchstarbeitszeit hinausgehenden Überstunden aufzuzeichnen, sei als solche nicht in der Lage, den gebotenen Arbeitnehmerschutz sicherzustellen, da eine Aufzeichnung der Überstunden nur dort effektiv erfolgen könne, wo im Rahmen einer lückenlosen Dokumentation festgestellt werden kann, in welchem zeitlichen Umfang der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung bisher erbracht hat.
Eine Umsetzung der Rechtsprechung durch den deutschen Gesetzgeber ist bisher nicht erfolgt. Inzwischen liegt jedoch eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden (Urteil v. 20. Februar 2020 – 2 Ca 94/19) vor, die sich mit den Auswirkungen der Entscheidung des europäischen Gerichtshofs auf das deutsche Arbeitsrecht auseinandersetzt.
Das Arbeitsgericht kommt in seiner Entscheidung zu dem Ergebnis, dass der Arbeitgeber aufgrund einer unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 31 Abs. 2 der GrCh auch ohne einen Umsetzungsakt des deutschen Gesetzgebers bereits jetzt dazu verpflichtet sei, ein entsprechendes Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten.
Nehme der Arbeitgeber eine den Anforderungen des europäischen Gerichtshofs entsprechende Zeiterfassung nicht vor, könne er der substantiierten Behauptung des Arbeitnehmers im Zivilprozess, er habe eine gewisse Anzahl von Arbeitsstunden erbracht, nicht durch substantiierten Vortrag entgegentreten und der Vortrag des Arbeitnehmers gelte gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden.
Die Rechtsprechung zur Arbeitszeiterfassung des Arbeitsgerichts Emden ist in der Sache nicht überzeugend und dürfte in dem anhängigen Berufungsverfahren voraussichtlich keinen Bestand haben. Weder Art. 31 Abs. 2 der GrCh noch die Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie können eine unmittelbare Verpflichtung der Arbeitgeber herbeiführen.
Sowohl die Grundrechte Charta, als auch die Arbeitszeitrichtlinie wendet sich nach dem europarechtlichen Grundgedanken zunächst ausschließlich an die Mitgliedstaaten und muss durch diese beachtet, bzw. in nationale Gesetze umgesetzt werden, vgl. Art. 51 der GrCh und Art. 288 AEUV.
Eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nur ausnahmsweise in Betracht, wenn der Mitgliedstaat die Richtlinie nicht rechtzeitig umsetzt, die Richtlinie ihrem Inhalt nach hinreichend klar und genau formuliert ist und dem nationalen Gesetzgeber ei der Ausgestaltung kein Umsetzungsspielraum mehr zur Verfügung steht.
Unter ähnlichen Voraussetzungen hat der europäische Gerichtshof auch die unmittelbare Geltung des in Art. 31 Abs. 2 GrCh enthaltenen Rechts des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub angenommen, da es sich hierbei um einen „wesentlichen Bestandteil“ des sozialen Arbeitsschutzes des Unionsrechts handele.
Weder der eine, noch der andere Rechtsgedanke ist in der Lage, im vorliegenden Fall eine unmittelbare Geltung des Unionsrechts zulasten des Arbeitgebers zu rechtfertigen.
Eine Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit kann nur durch den nationalen Gesetzgeber begründet werden. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass selbst der europäische Gerichtshof in seinem Urteil lediglich von einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten, nicht jedoch der jeweiligen Arbeitgeber spricht. Vielmehr betont der Europäische Gerichtshof, dass den Mitgliedstaaten bei der Errichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung ein Umsetzungsspielraum verbleibt.
Der Umstand, dass der Europäische Gerichtshof in einer Entscheidung zum bezahlten Jahresurlaub eine unmittelbare Wirkung des Art. 31 Abs. 2 der GrCh angenommen hat, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Diese Entscheidung bezieht sich zum einen auf eine andere Tatbestandsalternative der genannten Norm, zum anderen ist der Wortlaut im Hinblick auf den bezahlten Jahresurlaub wesentlich klarer, als dies im Bereich der Arbeitszeit und der Arbeitszeiterfassung der Fall ist.
Insofern kann hier nicht davon ausgegangen werden, dass die Regelung der Grundrechte Charta inhaltlich hinreichend genau ist.
Jedenfalls aber steht der vom Europäischen Gerichtshof genannte Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten einer unmittelbaren Anwendung entgegen.
Für Arbeitgeber ist bisher nicht absehbar, welche Anforderungen der deutsche Gesetzgeber an ein entsprechendes System stellen wird. Insbesondere die Begriffe „verlässlich“ und „einsehbar“ bedürfen in rechtlicher und technischer Hinsicht einer weitergehenden Konkretisierung.
Es kann daher nicht vom Arbeitgeber gefordert werden, quasi ins Blaue hinein ein entsprechendes System zu installieren. In diesem Fall würde der Arbeitgeber Gefahr laufen, dass sich die womöglich erheblichen Einrichtungskosten in wenigen Monaten als nutzlos erweisen könnten, wenn das gewählte System den gesetzlichen Vorgaben nicht entspricht.
Es ist daher zu hoffen, dass die Rechtsprechung zur Arbeitszeiterfassung des Arbeitsgerichts Emden ein Einzelfall bleibt und in der Berufungsinstanz keinen Bestand haben wird.
Nichtsdestotrotz sind die Arbeitgeber gehalten, sich bereits jetzt mit dem Thema der Arbeitszeiterfassung betraut zu machen, um im Falle einer gesetzlichen Regelung kurzfristig reagieren zu können.
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